BAUSTELLE Brecht V: Praktiken der Platznahme bei Brecht, Benjamin und Co.

BAUSTELLE Brecht V: Praktiken der Platznahme bei Brecht, Benjamin und Co.

Veranstalter
Literaturforum im Brecht-Haus / International Brecht Society (Dr. Micha Braun, Dr. Christian Hippe)
Ausrichter
Dr. Micha Braun, Dr. Christian Hippe
Veranstaltungsort
Literaturforum im Brecht Haus, Chausseestraße 125
PLZ
10115
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.11.2023 - 01.12.2023
Deadline
15.08.2023
Von
Micha Braun, Universität Leipzig Institut für Theaterwissenschaft

Das Literaturforum im Brecht-Haus lädt in Zusammenarbeit mit der International Brecht Society (IBS) Wissenschaftler:innen (besonders Graduierte, Doktorand:innen und andere Early Career Researcher) aller Disziplinen dazu ein, ihre Arbeiten zu Bertolt Brecht vorzustellen und zu diskutieren. Bevorzugt werden Beiträge gesucht, die sich mit dem Themenkomplex der sozialen Raumnahme bei Brecht und seinen Zeitgenoss:innen beschäftigen.

BAUSTELLE Brecht V: Praktiken der Platznahme bei Brecht, Benjamin und Co.

Der Zugang, das Nutzungsrecht und das Verhältnis von öffentlichen zu privaten Räumen war schon immer durch Zugehörigkeit zu Klasse, Rasse oder Ethnie, Altersgruppen, Geschlecht und weiteren sozialen Machtkonstellationen und Identitätsmarkern geprägt. Wer an welcher Stelle im Bus sitzen darf, welche Zutrittsbeschränkungen jeweils für öffentliche Gebäude, Einkaufszentren oder Spielplätze gelten, welche Freundschafts- und Sorgebekundungen im öffentlichen Raum als statthaft gelten, hat nicht nur mit sozialer Normenkontrolle zu tun, sondern mit tatsächlicher Machtausübung durch Mehrheitspositionen und Institutionen. Solche ‚traditionellen‘ Formen eines differenzierenden Zugangs des Individuums zu sozialen Räumen werden zugleich in sozialen Kontexten wie Familie und Freundschaften, Arbeits-, Solidar- oder Protestgemeinschaften sowie Geschlechts- und ‚ethnische‘ Gruppenidentitäten immer wieder relativiert oder verändert. Wie aber beziehen sich heute Individuen wie wechselnde soziale Gruppen auf den sie umgebenden Raum, welche Erfahrungen lässt der (urbane) Raum zu und welche nicht, wie verändern sich in Zeiten der Verdichtung und der gleichzeitigen Stadtflucht das Verhalten und die Bedingungen desselben? Nicht zuletzt haben die soziale Distanzierung und die Ungewissheit, die durch die globale Covid-Pandemie entstanden sind, solche Beziehungen radikal umgestaltet. Während das Home Office nicht für alle gleichermaßen eine Option war (vor allem für Pflegekräfte oder andere soziale Dienstleister:innen), bedeutete die Beschränkung auf den häuslichen Bereich für andere unter Umständen eine Eskalation geschlechts- oder gruppenspezifischer Gewalt, Bildungsdefizite oder psychische Störungen – ganz abgesehen von der Privatisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge wie (Hoch-)Schulbildung, Gesundheitsvorsorge und integrative Sozialarbeit. Zugleich sorgen die Finanzkrise und ihre Nachwehen für Verschiebungen, Verdrängungen und komplett neue Konstellationen am Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Bertolt Brecht hat in den 1920er Jahren, u.a. in „Aus dem Lesebuch für Städtebewohner“, in den dramatischen Texten „Im Dickicht der Städte“, „Trommeln in der Nacht“ oder „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ sowie in Prosatexten und Fragmenten wie „Der Brotladen“, seinen verschiedenen Cäsar-Bearbeitungen oder „Die unwürdige Greisin“ von strukturell ähnlichen Erfahrungen Zeugnis gegeben. Die Landflucht – das Verlassen der Provinz und der Zuzug in die Städte des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik – markierte eine massive Veränderung im räumlichen und damit sozialen Verhalten vieler Menschen zueinander. In seinem Denken und Schreiben spielen dementsprechend Fragen des Wohnens, Arbeitens, Sichtbarwerdens und Verschwindens, der (versteckten oder öffentlichen) Sorgearbeit und der (kriminellen oder organisierten) Ent- oder Aneignung des Menschen durch und im Raum der Stadt eine Rolle. Nicht zuletzt finden sich in seinen oder den Texten seines Freundes und produktiven Sparringspartners Walter Benjamin wie „Einbahnstraße“ oder „Berliner Kindheit um 1900“ sowie in der „Dreigroschenoper“ oder dem gemeinsamen Filmprojekt mit Slatan Dudow und Ernst Ottwald „Kuhle Wampe, oder: Wem gehört die Welt?“ auch Praktiken eines klassenbewussten Raumnehmens der „Ärmsten der Armen“ (Peachum), einer Psychogeographie (wie es die Situationistische Internationale nennen wird) sowie eines performativ verstandenen Lesens und Produzierens räumlicher Konstellationen. Mit neuen Techniken wie dem Radio oder dem Film untersuchten beide zugleich die Möglichkeiten einer Raum und Zeit transzendierenden Kommunikation über utopische, zukünftige Sozialordnungen und Artikulationsformen.

Mit Brecht, Benjamin und anderen Zeitgenoss:innen möchte die fünfte Ausgabe der BAUSTELLE Brecht nach solchen raumsoziologisch verstandenen Praktiken und Prozessen der ‚Platzierung‘ (Martina Löw) in einer sich diskontinuierlich verändernden Lebenswelt fragen. Mögliche Fragestellungen und Themenfelder sind, beschränken sich aber nicht auf:

- Welche raumgreifenden Praktiken entwickeln Menschen heute und/oder in Brechts Berliner Zeit vor dem Exil im Umgang mit den Erfahrungen ihrer jeweiligen Gegenwart?
- Wie wird in der Gegenwart und/oder in der Weimarer Republik eine Raumhierarchie unterschiedlicher Benutzer:innen gedacht und realisiert und gibt es da mögliche Parallelitäten? Hat etwa die Pandemie bzw. die jeweils neue Erfahrung eines (un)begrenzten, anonymen (urbanen, digitalen, konsumistischen, aktivistischen) Raums die traditionell geschlechts- und klassenspezifische Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verändert, verschärft oder um neue Aspekte erweitert? Welche, im Theater oder verwandten Medien thematisierten, Auswirkungen hatte ein solcher sozialer Wandel z.B. für Frauen, queere Menschen sowie für Migrant: innen?
- Welche Arten von ökonomischer und sozialer Prekarität sowie klassen- bzw. genderspezifischer Raumpraktiken lassen sich mit Brecht in Performance und Theater abbilden oder hinterfragen?
- Welche Auswirkungen hat die Entgrenzung von Arbeitsräumen ins Private hinein in Zeiten, in denen häusliche und außerhäusliche Sorgearbeit (auch um sich selbst) zur obersten Priorität geworden sind? Wie kann Theater oder Literatur hier solidarisierend, empowernd und zugleich entlastend wirksam werden?
- Wie wirkte sich das Verbot öffentlicher Versammlungen und der fehlende Zugang zur Straße in den 1920ern wie in den 2020ern auf die politische und ästhetische Artikulation von politischem Dissens aus? Welche Alternativen bieten die jeweils neuen Medien?
- Welche Modelle eines zeitgemäßen Verständnisses von Öffentlichkeit und Privatheit lassen sich mit oder gegen Brecht für unsere Gegenwart und Zukunft erkennen?

Weitere Themenvorschläge sind natürlich willkommen!

Die BAUSTELLE Brecht V wird vom Nachmittag des 30. November bis zum Abend des 1. Dezember 2023 im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin stattfinden. Sie ist als Präsenzveranstaltung geplant; u.a. sieht das Programm eine Führung durch das Brecht-Haus (Museum mit Wohnungen, Archiv) vor. Um den Raum auch für Wissenschaftler:innen zu öffnen, die – aus familiären, gesundheitlichen oder ökologischen Gründen – nicht anreisen können oder wollen, gibt es zudem die Möglichkeit der virtuellen Teilnahme. Die anteilige Übernahme von Reise- und Unterbringungskosten in Form einer Pauschalvergütung ist geplant.

Beiträge – auf Deutsch oder Englisch – sollten 20 Minuten lang sein; willkommen sind zudem Materialpräsentationen, Lectures oder kleine Performances, die ihren work-in-progress-Charakter offenlegen und Fragen für die gemeinsame Diskussion entwickeln. Wir beabsichtigen, den Beiträgen Respondent:innen aus der Community der IBS zur Seite zu stellen. Die Publikation ausgewählter Beiträge in e-cibs (Electronic Communications of the IBS, https://e-cibs.org) im Anschluss an die Veranstaltung ist vorgesehen, möglich ist auch die Einreichung zum Peer-Review-Verfahren des Brecht Jahrbuchs/Brecht Yearbook.

Themenvorschläge von max. 350 Wörtern sowie eine biografische Notiz bitte bis zum 15. August 2023 an baustelle@lfbrecht.de. Die Auswahlentscheidung erfolgt bis Mitte September.

BAUSTELLE Brecht V: “Therefore, everyone, stand where you are and sing the hymn of the poorest of the poor” – Practices of Placement in Brecht, Benjamin, and Co.

In cooperation with the International Brecht Society (IBS), the Literaturforum im Brecht-Haus invites scholars from all disciplines (especially post-graduate and graduate students, dissertators, and other early career researchers) to present and discuss their work on Bertolt Brecht. We seek contributions that treat the thematic complex of social spaces in or with Brecht and his contemporaries.

Access, right of use, and the relationship between public and private spaces has always been shaped by class, race or ethnicity, age groups, gender, and other social power constellations and identity markers. Who is allowed to sit where on the bus, what access restrictions apply to public buildings, shopping centers, or playgrounds, which expressions of friendship and concern are allowed in public spaces, not only has to do with control of social norms but also with the actual exercise of power by majority positions and institutions. These “traditional” forms of differentiating access of the individual to social spaces are simultaneously relativized or continually modified in social contexts such as family and friendships, communities of work, solidarity or protest, as well as gender and “ethnic” group identities. But how do individuals and changing social groups relate to the space around them today? What experiences does the (urban) space allow and what is impermissible? How do behavior and conditions change in times of densification and simultaneous urban flight? Last but not least, the social distancing and uncertainty created by the global Covid pandemic have radically reshaped such relationships. While the home office was not an option for everyone (especially caregivers or other social service providers), for others confinement to the domestic sphere heightened gender or group-specific violence, educational deficits, or psychological disorders – quite apart from privatizing public service tasks such as school and college education, health care, and integrative social work. At the same time, the financial crisis and its aftermath are increasingly causing shifts, displacement, and completely new constellations in the labor and housing markets.

In the 1920s, Bertolt Brecht bore witness to structurally similar experiences in – among others – “Aus dem Lesebuch für Städtebewohner,” in the dramatic texts “Im Dickicht der Städte,” “Trommeln in der Nacht,” or “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny,” as well as in prose texts and fragments such as “Der Brotladen,” his various Caesar adaptations, or “Die unwürdige Greisin.” The rural exodus – leaving the provinces and moving to the cities during the late Kaiserreich and the Weimar Republic – marked a massive change in the spatial and thus social behavior of many people towards one another. Accordingly, questions of living, working, visibility and disappearance, (hidden or public) care work, and the (criminal or organized) expropriation or appropriation of people by and in urban space play a role in his thinking and writing. Last but not least, class-conscious spatial practices of the “poorest of the poor” (Peachum) can be found in Brecht’s texts or those of his friend and creative sparring partner Walter Benjamin. To name some: “Einbahnstraße” or “Berliner Kindheit um 1900”, as well as “Die Dreigroschenoper” or the collaborative film project with Slatan Dudow and Ernst Ottwald “Kuhle Wampe, oder: Wem gehört die Welt?” Here we encounter a ‘psychogeography’ (as the Situationist International would later call it) and the performatively understood reading and production of spatial constellations. Using new technologies such as radio or film, they explored the communicative possibilities for utopian, future social orders and forms of articulation that transcend space and time.

With Brecht, Benjamin and other contemporaries the fifth edition of BAUSTELLE Brecht asks about such spatially and sociologically understood practices and processes of “placement” or “spacing” (Martina Löw) in a discontinuously changing living environment. Possible questions and thematic fields include but are not limited to:

- Which spatially expansive practices do people develop today and/or during Brecht’s pre-exile life in Berlin for dealing with the experiences of their respective present?
- How is a spatial hierarchy of different users conceived and realized in the present and/or during the Weimar Republic, and are there possible parallels? For example, has the pandemic or the new experience of an (un)limited, anonymous space (urban, digital, consumerist, activist) changed, increased, or added new aspects to the traditional gender and class-specific separation between the public and the private? What effects, discussed in theater or related media, did such social change have, for example, on women, queer people, and migrants?
- What types of economic and social precarity as well as class or gender-specific spatial practices can be depicted or investigated with Brecht in performance and theater?
- What effect does dissolving boundaries between workspaces and private life have in times when care work at home and outside the home (also for oneself) has become the top priority? How can theater or literature be effective in solidarity, empowerment, and at the same time mitigation?
- How did the ban on public gatherings and lack of access to the streets affect the political and aesthetic articulation of dissent in the 1920s and 2020s? What alternatives do the new media offer?
- Which models of a contemporary understanding of the public and the private are discernible with or against Brecht for our present and future?

Additional topical suggestions are, of course, welcome!

BAUSTELLE Brecht V will take place from the afternoon of November 30th to the evening of December 1st, 2023, in the Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin. It is planned as an in-person event; among other things, the program includes a tour of the Brecht-Haus (Brecht and Weigel apartments, Brecht Archive). In order to expand the space for scholars who cannot or do not want to come for family, health, or ecological reasons, there is also the possibility of virtual participation. Partial reimbursement for travel and accommodation costs is planned in the form of a lump-sum allowance.

Contributions – in German or English – should last 20 minutes; also welcome are presentations of evidence, lectures, or performances that highlight their work-in-progress character and raise questions for general discussion. We intend to invite respondents from the IBS community for the panel presentations. Following the event, participants may submit contributions for possible publication to the online Communications from the IBS (https://e-cibs.org) or to the peer reviewed Brecht Yearbook/Brecht-Jahrbuch.

Please send an abstract of no more than 350 words and a biographical note by August 15 to: baustelle@lfbrecht.de. Selection of participants will be announced by mid-September.

Kontakt

baustelle@lfbrecht.de

https://lfbrecht.de/